14. April 2025

„Wir können die historische Verbindung aus Eberstadt nach Bessungen für den Radverkehr endlich wiederherstellen“

Interview mit Johanna Grön, Sachgebietsleiterin des Sachgebiets „Nahmobilität“ beim Mobilitäts- und Tiefbauamt der Wissenschaftsstadt Darmstadt zur Radmobilität und Infrastruktur im Ludwigshöhviertel.

Liebe Frau Grön, vielen Dank, dass Sie dieses Interview mit uns machen! Können Sie sich kurz vorstellen und Ihre Rolle im Projekt erklären?

Mein Name ist Johanna Grön, ich bin Bauingenieurin und seit zehn Jahren in der Rad- und Fußwegeplanung der Stadt Darmstadt. Seit Juli bin ich Sachgebietsleitung des Sachgebiets Nahmobilität. Ich begleite das Projekt „Anbindung Ludwigshöhviertel“ schon seit Jahren und führe das jetzt auch in der neuen Funktion weiter.

Wie sehen Sie die Rolle von Radfahrenden im urbanen Verkehr der Zukunft und welche Trends beobachten Sie derzeit in Bezug auf Nahmobilität, insbesondere in Darmstadt?

Die Rolle des Fahrrads als Verkehrsmittel ist für die meisten Menschen nicht der Pendelweg nach Frankfurt oder Wiesbaden, sondern die Alltagsmobilität, also Wege von maximal fünf Kilometern in der Stadt, wo man mit dem Rad sowieso schneller ist. Laut Studien zur Verkehrsmittelnutzung gibt es in Darmstadt eine deutliche Steigerung des Radverkehrsanteils. Als ich angefangen habe, lag der Anteil des Radverkehrs bei etwa 17 Prozent. Momentan sind wir bei 27 Prozent. Den Zuwachs spürt man auch im Rest von Deutschland und sieht ihn im Straßenverkehr deutlich. Der Anteil des Fußverkehrs in der Stadt ist von 28 auf 32% ebenfalls gestiegen.

Können Sie uns erklären, was die Radstrategie ist und was sie beinhaltet?

In der Stadt hat sich 2018 eine Gruppierung namens Radentscheid gegründet, die über 10.000 Unterschriften für eine bessere Fahrradinfrastruktur gesammelt hat. Die Bürger und Bürgerinnen wollten ein Bürgerbegehren initiieren. Diesem Wunsch wurde aus formalen Gründen damals nicht stattgegeben. Die Stadt Darmstadt ist aber trotzdem auf die vom Radentscheid formulierten Forderungen eingegangen, hat personelle und finanzielle Ressourcen erweitert und die sogenannte Radstrategie entwickelt. Diese legt fest, welche Ziele die Stadt mit der Radverkehrsplanung verfolgt und welche gestalterischen Vorgaben gelten. In der Praxis kann man diese selten zu 100 Prozent einhalten, weil viel im Bestand gebaut wird und dort der vorhandene Platz ein Stück weit das Machbare vorgibt. Im Ludwigshöhviertel können wir Radinfrastruktur entsprechend der Radstrategie planen, das ist toll! Dort steht unter anderem, dass Radwege rot eingefärbt sein sollen. Das setzen wir im ganzen Quartier um. Der Radweg ist wirklich richtig leuchtend rot. Ich persönlich finde das super, weil Verkehrsteilnehmende immer wissen, wo sie hingehören.

Welche Rolle hat das Fahrrad im Ludwigshöhviertel und welche Voraussetzungen muss die Radinfrastruktur erfüllen, um diese Ziele zu verwirklichen?

Das Ludwigshöhviertel ist sehr kompakt. Es kommt nah an eine 15-Minuten-Stadt heran, wo man überall zu Fuß hingehen kann. Das Fahrrad wird vor allem wichtig, wenn man das Quartier verlassen will.

Dafür ist es wichtig, ein gutes Fahrrad zu haben, das sicher abgestellt werden kann. Deswegen haben wir im städtebaulichen Vertrag festgehalten, dass es ausreichend Fahrradabstellmöglichkeiten geben muss, die gut erreichbar und überdacht sind. Für manche Häuser wird es in den Garagen außerdem Abstellmöglichkeiten zum Beispiel für Lastenräder und Ladepunkte geben. Aber das haben dann nicht wir in der Hand, sondern die Bauherren der Immobilien.

Wir haben außerdem darauf geachtet, dass wir am zentralen Platz im Ludwigshöhviertel ausreichend Fahrradabstellanlagen haben und diese auch überdacht sind, so dass man zum Beispiel mit dem Fahrrad zur Haltestelle fahren und das Rad dort für den Tag abstellen kann.

Das Ludwigshöhviertel war früher eine amerikanische Kaserne, durch die eine Wegeverbindung nach Bessungen und in die Innenstadt führte. Nach dem Anschlag am 11.September 2001 wurden dort die Sicherheitsvorschriften erhöht, weshalb Zivilistinnen und Zivilisten diese Wegeverbindung nicht mehr nutzen durften. Wir konnten diese Verbindung aus Eberstadt nach Bessungen und in die Innenstadt für den Radverkehr jetzt nach über zwanzig Jahren wiederherstellen. Dieser Raddirektweg kommt aus der Heinrich-Delp-Straße und führt dann einmal durch das Quartier. Diese Radachse spielt auch eine wichtige Rolle, was die Schulwege angeht, zum Beispiel für die Lichtenbergschule und weitere Schulen in Bessungen. Kinder aus Richtung Eberstadt müssen dadurch nicht mehr an der Heidelberger Landstraße entlangfahren.

Welche spezifischen Anforderungen und Anregungen von Stakeholdern wurden in die Planung übernommen? Wie wurden die teils durchaus unterschiedlichen Interessen von Fuß- und Radverkehr in Einklang gebracht?

Anregungen von Stakeholdern - auch kritische - hat es sowohl vor als auch während des Erörterungstermins zum Planfeststellungsverfahren gegeben. Wir haben uns im Nachgang zum Termin mit den Rad- und Fußverkehrsverbänden sowie den Behindertenbeauftragten getroffen, über diese Rückmeldungen gesprochen und wo es möglich war, die Planungen entsprechend angepasst.

Es wurde zum Beispiel gemeinsam erarbeitet, wie der Rad- und Fußverkehr im Bereich des Gleisdreiecks so geführt werden kann, dass ihn alle intuitiv verstehen und auch blinde Personen über diesen Knotenpunkt laufen können.

Die Sicherheit der Fußgänger und Fußgängerinnen wird durch eine konsequente Trennung von Rad und Fußverkehr gewährleistet. Und ein konkretes Beispiel für umgesetzte Änderungsvorschläge zum Radverkehr: Angeregt durch den Radentscheid werden Radfahrende im Ludwigshöhviertel erstmalig in Darmstadt konsequent beim Kreuzen einer Nebenstraße, auf einer Höhe durchfahren können, der Geh- und Radweg wird im Bereich von Zufahrten  nicht abgesenkt. Das erhöht die Sicherheit, den Komfort und dient auch der Barrierefreiheit.

Wie sollen Radfahrende das Quartier in Richtung Innenstadt verlassen?

Zuerst mussten wir an dieser Stelle eine besondere Herausforderung meistern: Am denkmalgeschützten Tor in Richtung Ludwigshöhstraße ist der Gehweg nämlich sehr eng. Als uns das aufgefallen ist, haben wir darauf hingewirkt, dass Grundstücke vom Bauverein zurückgekauft wurden, um den Radverkehr getrennt davon führen zu können, damit es nicht zu Konflikten mit dem Fußverkehr kommt. Deshalb kommt der Radweg zukünftig links, wenn man in Richtung Bessungen schaut, aus der Mauer und führt als Zweirichtungsradweg die Ludwigshöhstraße entlang. Das Planungsgebiet für das Projekt „Anbindung Ludwigshöhviertel“ hört an der Paul-Wagner-Straße auf. In der Verkehrsnetzplanung muss nun geschaut werden, wie der Verkehr, der durch die etwa 3.000 Menschen, die zukünftig im Ludwigshöhviertel wohnen werden, entsteht, gut von den umliegenden Quartieren aufgenommen werden kann. Im Moment sitzt ein Mitarbeiter daran und arbeitet das konzeptionell genauer aus.

Warum gibt es an der Lichtenbergschule einen Zweirichtungsradweg? Ist das nicht gefährlich?

An der Lichtenbergschule kommen morgens über 1.000 Kinder zur gleichen Uhrzeit an. Die würden nicht an der Quartiersgrenze die Straßenseite wechseln, dann 200 Meter fahren und die Straße erneut überqueren, um zur Schule zu gehen. Um das zu berücksichtigen, führen wir den Radverkehr auf dem Zweirichtungsradweg bis vor die Paul-Wagner-Straße. Es stimmt, dass man Zweirichtungsradwege sonst nicht so gerne einrichtet.

Wenn es zu Unfällen kommt, liegt das oft an der Breite der Infrastruktur. Wenn diese gemäß den technischen Richtlinien dimensioniert wird (und das haben wir dort), dann wird das Konfliktpotenzial kleiner, weil alle Verkehrsteilnehmenden ausreichend Platz und auch Sicherheitsabstand haben. In der Statistik ist der Unfall zwischen Fahrrad- und Fußverkehr generell ein untergeordneter Fall im Vergleich zum Unfall zwischen Kfz- und Radverkehr.

Wir haben hier außerdem keine Kreuzung oder große Einfahrten, wie zum Beispiel an einem Supermarkt, wo permanent viele Menschen einbiegen. Es gibt hier vor allem private Zufahrten, die nur wenige Male am Tag genutzt werden. Das ist sicherheitstechnisch vergleichsweise unkritisch. Das Risiko, dass es an dieser Stelle zu Konflikten zwischen verschiedenen Verkehrsteilnehmenden kommt, ist geringer als anderswo.

Das Verhalten Radfahrender im Straßenverkehr wird häufig als rücksichtslos beschrieben. Wie sehen Sie das?

Es gibt natürlich Fälle von grundlos rücksichtslosem Verhalten. Die gibt es überall. Wenn man sich aber das Verkehrsnetz für den Radverkehr anschaut, dann sieht man, dass viele Probleme durch Lücken entstehen, wo es keinen Radweg gibt oder dieser plötzlich aufhört. Schließt man diese Lücken, stellt man fest, dass sich alles konsolidiert, da die Leute auf ihrem Weg fahren und weniger räumliche Konflikte entstehen. Wir schließen diese Netzlücken, um ein Miteinander zu ermöglichen.

Was hat Sie persönlich motiviert, an diesem Projekt mitzuwirken und welche Aspekte der Rad- oder Nahmobilitätsinfrastrukturplanung finden Sie besonders spannend?

Das Ludwigshöhviertel ist einfach ein innovatives Neubauprojekt. Wenn man Radwege plant, hat man ganz selten so viele Möglichkeiten wie hier. Meistens hat man rechts und links einen Bordstein und dazwischen ist noch ein bisschen Platz für einen Radweg. Im Ludwigshöhviertel können wir gute Radwege, wie wir sie in der Radstrategie formuliert haben, stringent durchplanen. Auch der Aspekt, dass wir eine Radachse wieder aufmachen können, die es über 20 Jahre nicht gegeben hat ist toll! Das ist in meinem Feld ein echter Glücksgriff.

Frau Grön, wir danken Ihnen für dieses Gespräch!

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