11. Dezember 2024

„Autoarme Quartiere bieten eine große Chance in Bezug auf Flächengerechtigkeit und Gleichwertigkeit aller Verkehrsteilnehmenden“

Interview mit Astrid Samaan, Abteilungsleiterin der Abteilung „Mobilität“ beim Mobilitäts- und Tiefbauamt der Wissenschaftsstadt Darmstadt zu Mobilitätsmix und -Herausforderungen der autoarmen Quartiere in Darmstadt.

Liebe Frau Samaan, vielen Dank, dass Sie dieses Interview mit uns machen. Vielleicht können Sie sich zu Beginn kurz vorstellen?

AS: Mein Name ist Astrid Samaan, ich habe hier in Darmstadt an der TU Darmstadt, Bauingenieurwesen mit Schwerpunkt Verkehr studiert und bin nach mehreren Jahren in verschiedenen Ingenieurbüros bei der Stadt Darmstadt im Mobilitäts- und Tiefbauamt gelandet. Dort bin ich seit 2019 Abteilungsleiterin der Abteilung „Mobilität“, die mehrere Sachgebiete umfasst. Diese beschäftigen sich alle mit der Planung und teilweise mit der Umsetzung von Maßnahmen zur Gestaltung einer umweltfreundlichen Mobilität, mit nachhaltigen Mobilitätsangeboten und ihrer Infrastruktur.

Wie kam Darmstadt zu seinen autoarmen Quartieren?

AS: Die Idee von autoarmen oder sogar autofreien Quartieren ist nicht neu, sondern schon über 25 Jahre alt. Die ersten autoarmen Quartiere entstanden aber auf freiwilliger Basis, zum Beispiel Freiburg Vauban. Das heißt, Bewohnerinnen und Bewohner haben eine Verzichtserklärung für ein eigenes Auto unterschrieben.

In Darmstadt sah das ein bisschen anders aus. Hier sind erstmalig planungsrechtliche Regelungen bereits in der Planungsphase in den Bebauungsplänen, Stellplatzsatzungen und im städtebaulichen Vertrag niedergelegt worden. Das ist das Resultat der Rahmenplanung Bessungen Süd (Lincoln-Siedlung und Ludwigshöhviertel), in deren  Zug eine Verkehrsuntersuchung gemacht wurde und man festgestellt hat, dass die wichtigen Verkehrsknotenpunkte heute schon an der Belastungsgrenze oder teilweise darüber hinaus sind. Die politische Frage, ob man weniger Wohnraum baut und dafür mehr Parkraum oder weniger Fahrzeuge ansetzt und dafür mehr Wohnraum schafft, fiel dann aufgrund der dringend benötigten Wohnungen in Darmstadt zugunsten des Wohnraumes aus.

Das war gut für die Mobilitätsplanung, da wir für beide Quartiere mit einem reduzierten Stellplatzschlüssel in die Planung gestartet sind. Vom Grundsatz her haben wir in beiden Quartieren maximal 0,5 - 0,65 Stellplätze pro Wohneinheit. Das war damals in Lincoln revolutionär und dafür gab es damals auch sehr viel Gegenwind.

Und es gab natürlich zahlreiche rechtliche Hürden zu überwinden, da wir planerisch wie rechtlich Neuland betraten. Nachdem die großen Vertragswerke wie der Bebauungsplan, der städtebauliche Vertrag und die Einschränkungs- und Verzichtssatzung fertig waren, habe ich manchmal gedacht: Warum haben wir uns das eigentlich angetan? Da kommen tausend kleine Herausforderungen, deren Verflechtungen miteinander man erst bei der Umsetzung komplett erfassen kann und die alle vor allem in Bezug auf die Rechtssicherheit und auch Akzeptanz verarbeitet werden mussten. Vielleicht braucht man das in ein paar Jahren nicht mehr, aber bei einem Pilotprojekt, will und muss man sich natürlich gegen alles absichern.

Ist es jetzt einfacher, nachdem es diese ersten Erfahrungen gibt?

AS: Ja! Es gibt mittlerweile auch Quartiere, die teilweise auch durch andere Investoren entwickelt werden, und bei denen das Konzept des autoarmen Quartiers nicht mehr in Frage gestellt wird. Dass es in der Lincoln-Siedlung funktioniert, hat gezeigt, dass es geht! Trotzdem entwickeln wir natürlich auch dort das Konzept auf Basis unserer Erfahrungen weiter.

Was für Menschen ziehen in autoarme Quartiere?

AS: Wir sehen in der Lincoln-Siedlung und nun auch im Ludwigshöhviertel einen breiten Querschnitt durch die Bevölkerung. Einige ziehen explizit wegen des nachhaltigen Mobilitätskonzepts dorthin – viel Platz im öffentlichen Raum, sichere Mobilität für alle und kurze Wege. Während der Bauzeit, als ungeregeltes Parken noch an vielen Stellen möglich war, gab es von diesen Menschen sogar Beschwerden, dass noch so viele Autos herumstünden. Und dann gibt es Menschen, die eher zufällig in einem der autoarmen Quartiere landen und vorher noch gar nichts von dem alternativen Mobilitätskonzept gehört haben. Zwischen diesen beiden Extremen gibt es zahlreiche Zwischentöne und natürlich sind die Bedürfnisse dann auch ganz unterschiedlich.

Welche Erwartungen stellen die Anwohnenden an die Mobilität im Quartier?

AS: Autoarme Quartiere sind ja nicht komplett autofrei. Das bedeutet, man kann prinzipiell ein Auto nutzen oder auch besitzen. Auch Besucher und Besucherinnen oder Handwerker finden im öffentlichen Straßenraum Parkplätze, die mit Parkschein genutzt werden können. Für soziale Dienste gibt es zudem den Sozialparkausweis und für Handwerker den Handwerkerausweis, der auch regional gilt, also nicht nur in Darmstadt. Innerhalb des Mobilitätskonzepts ist die Stellplatzvergabe das meistdiskutierte Thema. Eine zentrale Stellplatzvergabe nach sozialverträglichen Kriterien ist etwas Neues und Komplexes, was man als Mieterin oder Mieter im Detail nicht unbedingt mitbekommt. Wir haben als Betreiberin des Mobilitätsmanagements Verträge sowohl mit den Stellplatzeigentümern als auch den Nutzenden entwickelt.

Unsere autoarmen Quartiere bekommen perspektivisch alle eine Schule, Kinderbetreuungseinrichtungen und auch einen Nahversorger So können die Alltags-Wege kurzgehalten und die Notwendigkeit, ein eigenes Auto zu besitzen, weiter verringert werden.

Letztlich geht es darum, allen Verkehrsteilnehmenden, seien sie mit dem Auto, dem Fahrrad oder auch zu Fuß unterwegs, Sicherheit und Komfort zu bieten und sicherzustellen, dass ein gleichberechtigtes Miteinander gut funktioniert. Auch zu Fuß gehen ist ja im übertragenen Sinne ein Verkehrsmittel. Wir alle sind irgendwann im Verlauf des Tages einmal Fußgängerin oder Fußgänger, auch wenn wir nur zur Straßenbahnhaltestelle oder zum Parkhaus laufen. In Bestandsquartieren müssen sich alle Fußgängerinnen und Fußgänger mit teilweise deutlich weniger als einen Meter Gehweg mit zum Teil vielen parkenden Fahrzeugen teilen. Das kann man in einem Quartier, in dem dieser Mobilitätsform viel Aufmerksamkeit zukommt, von Anfang an anders gestalten. Daher stellen autoarme Quartiere eine große Chance in Bezug auf die Flächengerechtigkeit und Gleichberechtigung aller Verkehrsteilnehmenden dar.

Im autoarmen Quartier gewinnt man im öffentlichen Raum mehr an Sicherheit, Komfort und Aufenthaltsqualität. Die Bewohnerschaft, vor allem auch Kinder, können sich dadurch mehr draußen aufhalten. Im Ludwigshöhviertel haben wir fast nur verkehrsberuhigte Bereiche vorgesehen. Wir bekommen Rückmeldungen von Bewohnenden, wie schön es ist, dass man die Kinder draußen spielen lassen kann, ohne sich Sorgen machen zu müssen. Und das in einem durchaus urbanen, dicht besiedelten Quartier!

Aus welchen Bausteinen besteht das Mobilitätskonzept der Lincoln-Siedlung und was davon wird auch im Ludwigshöhviertel bereits umgesetzt?

AS: Maximal 0,65 Stellplätze pro Wohneinheit begrenzen das Kfz-Aufkommen in beiden Quartieren von Anfang an. Außerdem haben wir eine flächendeckende Parkraumbewirtschaftung sowohl auf privaten Flächen als auch im öffentlichen Straßenraum eingerichtet. Gleichzeitig wird die Nahmobilitätsinfrastruktur in Richtung Innenstadt und Nachbarquartiere durch Förderung des ÖPNV und des Nah- und Fußverkehrs verbessert. Das geht einher mit geschwindigkeitsbegrenzten Quartiersstraßen mit Tempo-30-Limit und verkehrsberuhigten Bereichen im Quartier selbst. Außerdem haben wir entlang der Lincoln-Siedlung in der Heidelberger Straße die Radinfrastruktur ausgebaut, um so auch Wegeverbindungen außerhalb des Quartiers in die Innenstadt oder Nachbarviertel per Fahrrad erreichbar zu machen. Durch das Ludwigshöhviertel wird es zukünftig einen Raddirektweg geben.

Über solche klassischeren Bausteine hinaus haben wir in der Lincoln-Siedlung auch innovative Elemente realisiert, die es vorher in dieser Form noch nicht gab. Zunächst haben wir HEAG mobilo, unser Verkehrsunternehmen, mit der Betreiberschaft des Mobilitätsmanagements beauftragt. Dann gab es bereits von Anfang an vor Ort eine Mobilitätszentrale, die von HEAG mobilo betreut wird. Diese ist Anlaufstelle für alle Fragen rund um die Mobilität und informiert kontinuierlich zu allen Themen rund um die Mobilität im Viertel. Sie betreut auch Aktionen und Infostände. Transparente und umfassende Information zu Stellplatzvergabe und zum Mobilitätsangebot im Viertel ist ein ganz wichtiger Baustein des Mobilitätskonzeptes. So erreichen und überzeugen wir auch die Menschen, die nicht in erster Linie wegen des autoarmen Quartiers hierhergezogen sind. Es gibt eine Stellplatzvergabeordnung nach sozialen Kriterien: Das heißt, mobilitätseingeschränkte Personen oder Familien mit Kindern, aber auch Haushalte mit Elektrofahrzeugen oder mehrere Haushalte, die sich ein Fahrzeug teilen, stehen in der Priorität weiter oben. Durch die 0,65 Stellplätze pro Wohneinheit kann ja nicht jeder Wohnung ein eigener Stellplatz zugeordnet werden.

Ein sogenanntes E-Car-Pooling-Angebot in der Lincoln-Siedlung steht exklusiv den Bewohnerinnen und Bewohnerinnen zur Verfügung. Da diese Fahrzeuge auf den wohnungsnahen Parkplätzen stehen, stehen diese Fahrzeuge ggf. näher an der Wohnung als das eigene Auto in der Sammelgarage. Die Botschaft ist: „Wenn ich mal ein Auto brauche, dann steht mir das zu Verfügung. Ich muss nicht zwingend ein eigenes Fahrzeug besitzen.“ Neben dem E-Car-Pooling haben wir Sharing-Angebote für Fahrräder und Lastenräder. Ein weiterer innovativer Baustein des Mobilitätskonzeptes – das sage ich mit einem gewissen Stolz: Wir haben in den Vertragswerken festgelegt, dass ein Anteil der Stellplatzmieten dem Mobilitätsmanagement zufließt. Damit wird die Beratung, die Mobilitätszentrale und das Anreizsystem für das Car-Pooling finanziert und damit eine Verstetigung der Finanzierung des Mobilitätsmanagements erreicht.

Sie hatten bereits einzelne Verkehrsmittel genannt, die zur Verfügung stehen. Ist geplant, das Angebot noch zu erweitern oder ist das Mobilitätskonzept zum jetzigen Zeitpunkt komplett?

AS: Wenn wir von Lincoln reden, würde ich sagen, dass das Konzept im Moment erst einmal komplett ist. Im Ludwigshöhviertel sind wir natürlich noch im Aufbau. Wir wissen ja gar nicht genau, was die Zukunft bringt. Noch vor drei Jahren konnte sich kaum jemand etwas unter E-Tretrollern vorstellen. Ich glaube, da kommen durchaus noch neue Ideen, in welcher Form auch immer. Wir sind für erstmal alles offen!

Seit vor kurzem die ersten Bewohnerinnen und Bewohner im Ludwigshöhviertel eingezogen sind, haben wir zunächst den HeinerLiner für den Anschluss an das Liniennetz in den Linienbetrieb eingebunden. Dieser wird aber von seinem Beförderungsvolumen nicht lange ausreichen. Ab Mitte 2025, wenn weitere Bewohnerinnen und Bewohner hinzukommen, werden wir größere Fahrzeuge benötigen. Wir prüfen derzeit, wann und wie wir den Linienbetrieb, wahrscheinlich mit Kleinbussen, ausweiten können, bis die finale Anbindung an das Straßenbahnnetz umgesetzt ist.

Welche Rolle spielt der ÖPNV für autoarme Quartiere?

AS: Der ÖPNV bildet das Rückgrat der verkehrlichen Quartierserschließung. In Lincoln war es daher gut, dass es bereits die Straßenbahnlinie entlang der Heidelberger Straße gab. Es gab auch eine Haltestelle im Süden, und man hat früh, als erst wenige Bewohnerinnen und Bewohner eingezogen waren, eine zweite Haltestelle in der Quartiersmitte ausgebaut. Im Ludwigshöhviertel ist das etwas schwieriger, da eine komplett neue Linie bzw. die Verlängerung der bestehenden Linie umgesetzt werden muss. Wir befinden uns derzeit im Planfeststellungsverfahren dafür.

Was ist der Unterschied zwischen Carsharing und Carpooling? Sind diese Sharing-Konzepte zukunftsfähig?

AS: E-Carpooling ist ein von uns in der Lincoln-Siedlung geprägter Begriff. Die Fahrzeuge dafür werden auf Privatflächen angeboten und stehen nur den Bewohnerinnen und Bewohnern des Quartiers zur Verfügung. Beim öffentlichen Carsharing können alle Darmstädter und Darmstädterinnen Fahrzeuge buchen. Das Angebot ist nicht neu, aber war früher auf Privatflächen beschränkt und durfte im öffentlichen Straßenraum nicht angeboten werden. Mittlerweile dürfen aber auch in Hessen Carsharingangebote über Sondernutzungsregelungen im öffentlichen Straßenraum angeboten werden. Darmstadt hat dieses Jahr die ersten Stationen ausgeschrieben und umgesetzt und die zweite Welle erfolgt Anfang nächsten Jahres. Zukünftig ergänzen sich beide Konzepte der quartiersinternen und quartiersübergreifenden Angebote. Perspektivisch ist ggf. auch eine Vermischung der Angebote möglich.

Inwiefern ist Darmstadt mittlerweile Pionier in Bezug auf autoarme Quartiere? Und entfalten Darmstadts autoarme Quartiere Strahlwirkung auf andere Stadtteile?

AS: Wir können mit Stolz sagen, dass wir mittlerweile sehr oft aus dem ganzen Bundesgebiet und auch aus dem benachbarten Ausland (Österreich, Schweiz, Schweden) nach unserer Expertise gefragt werden. Auch Mobilitätsplanende großer Städte wie Berlin, München und Hamburg hatte ich schon am Telefon. Das Thema haben einfach alle Kommunen auf dem Schirm. Außerdem werden wir seit 2018 durch verschiedene Förder- und Forschungsprojekten des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zu dem Thema unterstützt.

Ich denke, eine Strahlwirkung ist besonders auf andere Neubauquartiere zu erkennen. Als Planende kann man neue Herangehensweisen von Anfang an überdenken. Aber auch für die zukünftigen Bewohnerinnen und Bewohner ist es viel leichter, über alternative Mobilitätsformen nachzudenken, wenn man sich generell z.B. in Bezug auf Arbeit, Schule, etc. neu orientieren muss. Bei Bestandsquartieren ist es schwieriger, die Menschen von neuen Angeboten zu überzeugen, wenn diese schon lange in diesem Viertel wohnen und dann plötzlich etwas verändert werden soll. Aber wir sind auch an diesem Thema dran. Aktuell nehmen wir mit der Lincoln-Siedlung zusammen mit der Goethe-Uni Frankfurt und den Städten und Universitäten in Wien und Stockholm an einem Forschungsprojekt teil. Es heißt "Mobility Benefit 15" und es geht darum, wissenschaftlich zu untersuchen, welche Orte man innerhalb von 15 Minuten ohne Auto erreichen kann und ob man mit Einnahmen aus Parkraumbewirtschaftung Maßnahmen zur Förderung alternativer Mobilitätsformen subventionieren kann. Also im Prinzip das Grundkonzept aus Lincoln. Wenn wir langfristig auch den Menschen in Bestandsquartieren Mobilitätsalternativen anbieten, können wir dort das Gehwegparken reduzieren und in Zukunft eine bessere Aufenthaltsqualität erreichen.

Ich glaube, dass autoarme Quartiere auch auf einer übergeordneten Ebene Denkprozesse anstoßen. Sharing-Konzepte generell werden in Zukunft immer wichtiger, davon bin ich überzeugt. Ein Lastenrad ist ja auch nicht unbedingt billiger als ein Gebrauchtwagen. Da ist dann z.B. ein Lastenradsharing ergänzend zum Carsharing praktisch und sinnvoll.

Wir sehen, dass die urbane Generation, die heute Kinder hat, nicht mehr unbedingt ein eigenes Auto besitzt oder besitzen will.

Frau Samaan, herzlichen Dank für das interessante Gespräch!

Wer sich für autoarme Quartiere in Darmstadt interessiert, findet hier weitere Informationen:

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